Interview

Von Kreuzprotektion über Bugwellen bis zur „Selbstsanierung“: Erinnerungen an 25 Jahre PRRS-Impfstoff von Boehringer Ingelheim

Boehringer Ingelheim hat vor ziemlich genau 25 Jahren den ersten PRRS-Lebendimpfstoff mit einem US Impfstamm auf den Markt gebracht. Dieser US-Impfstoff hat eine erfolgreiche, aber auch turbulente Vergangenheit. Was es damit auf sich hat, davon berichten Frau Dr. Gabriele Schagemann und Dr. Harald Grunert.

Dr. Gabriele Schagemann

Fachtierärztin für Virologie

Frau Dr. Schagemann ist Fachtierärztin für Virologie und arbeitet seit 1992 bei Boehringer Ingelheim im technischen Marketing Schwein.

Dr. Harald Grunert

Fachtierarzt für Schweine

Herr Dr. Grunert ist Fachtierarzt für Schweine und gründete 1996 eine eigene Schweinepraxis in Bad Kleinen, nachdem er zu DDR-Zeiten in einer 6.000er Schweineanlage gearbeitet hatte. Da er überregional tätig war und für Zuchtunternehmen gearbeitet hat, konnte er viel Erfahrung mit dem porzinen reproduktiven und respiratorischen Syndrom, kurz PRRS, und der Impfstoffanwendung machen.

Herr Dr. Grunert, können Sie sich noch an den ersten PRRS-Fall erinnern, mit dem Sie konfrontiert
waren?

Dr. Grunert: Ja, eindeutig. Wir bekamen 1991 die ersten Veröffentlichungen über diese Krankheit. Ich hatte auch schon von Fällen in Niedersachsen gehört. 1992 wurde ich zu einem meiner Betriebe gerufen, ein relativ kleiner Betrieb mit 200 Sauen. Diesen Eindruck, den werde ich nie vergessen. Die Tiere wurden eine Woche vor dem Abferkeltermin eingestallt und nach zwei Tagen hatten 80 % der Sauen abortiert mit sehr hoher Totgeburtenrate. Die restlichen Ferkel waren lebensschwach. Dieses klinische Bild ist mir vorher nie begegnet und ich hatte damals schon über 20 Jahre mit Schweinen zu tun. Die Spätaborte sind sowas von typisch. Danach kamen fast jede Woche neue Betriebe hinzu. Da musste ich nur die Stalltür aufmachen und es war anhand der Klinik sofort klar, dass es PRRS ist. Das Bild ist leider ein bisschen in Vergessenheit geraten.

Also war sofort klar, dass Sie es mit dieser neuartigen Erkrankung zu tun hatten oder mussten zunächst
Differentialdiagnosen abgeklärt werden?

Dr. Grunert: Das Lelystad-Virus war ein paar Monate zuvor gerade nachgewiesen worden, aufgrund der Literatur wusste ich, dass es das sein musste. Es gab schon Labore, die das Virus nachweisen konnten, deshalb habe ich gleich Blutproben für den Antikörpernachweis genommen. Eigenartigerweise war die Krankheit den Ämtern damals noch unbekannt, und als ich den Nachweis gemeldet hatte, hat das Amt sofort alles gesperrt, weil sie glaubten, es sei eine anzeigepflichtige Seuche, was kurzzeitig auch der Fall war.

Dr. Schagemann: Der erste deutsche Fall wurde ja in Münster von Dr. Nienhoff vom Schweinegesundheitsdienst in Zusammenarbeit mit dem Landesuntersuchungsamt nachgewiesen. Dr. Ohlinger hat sich relativ schnell um Serologie und Virologie gekümmert. Wir von Boehringer Ingelheim haben dann mit den Münsteranern sehr eng zusammengearbeitet, um diese Fälle besser aufklären zu können.


Frau Dr. Schagemann, die PCR war ja recht bald in der Lage, zwischen dem EU- und dem US-Stamm
zu unterscheiden. Wie wurde das genutzt?

Dr. Schagemann: Einerseits konnten wir damit immer gut unterscheiden, ob der Bestand feldvirusfrei ist. Wir mussten aber auch lernen, dass unser Impfstoff der bunte Hund war, den man immer detektieren konnte, weil es in Deutschland nie über einen längeren Zeitraum US-Feldviren gegeben hat. Wenn hingegen irgendwo im Bestand ein EU-Virus auftauchte hieß es immer erst einmal, es sei ein Feldvirus, obwohl wir heute wissen, dass es nicht unbedingt immer so war.


Herr Dr. Grunert, wie sind Sie vor der Zulassung des ersten PRRS-Lebendimpfstoffes bei einem PRRS
Ausbruch vorgegangen? Konnte man die PRRS-Infektion auch ohne Impfung unter Kontrolle bringen?

Dr. Grunert: Das war natürlich schwierig, aber wir waren es gewöhnt, viele Seuchen oder Erkrankungen durch hygienische Maßnahmen zu bekämpfen. In den von mir betreuten Betrieben gab es zu der Zeit bereits sehr hohe Hygienestandards mit Einduschen und Kleidungswechsel und wir haben ganz massiv auf das Rein-Raus-Prinzip mit Desinfektion geachtet, sowohl im Flatdeck als auch in der Mast. Wir haben die Ferkel nach 21 Tagen abgesetzt, um den Austausch zwischen Sauen und Ferkeln zeitlich so kurz wie möglich zu halten. Diese Maßnahmen haben ein bisschen was gebracht, aber es kam trotzdem noch zu Ausbrüchen.

Als man noch PRRS-negative Hybridjungsauen ohne Impfschutz in die Betriebe eingliederte, passierte eine Katastrophe, sie wurden nicht mehr tragend. Ich hatte einen Betrieb in der Nähe mit 1.200 Sauen, der bekam mehrfach jeweils 100 Jungsauen. Diese wurden eingestallt und nur etwa 15 bis 20 haben auch abgeferkelt, die anderen blieben alle auf der Strecke. Das haben wir dann verhindert, indem wir die Jungsauen im Betrieb selbst aufgezogen haben. Bei den kleineren Betrieben, die nur 10 Jungsauen bekamen, haben wir diese in Quarantäne gestellt und dann über Kontakt zu Altsauen versucht, die Jungsauen zu infizieren, damit sie eine gewisse Immunität entwickeln. 


Herr Dr. Grunert, was hat es mit der vielzitierten „Bugwelle bei PRRS“ auf sich? 

Dr. Grunert: Diese Bugwelle ist ja ein maritimer Begriff, das mag ich. Er stammt möglicherweise von mir und ich habe ihn sehr oft verwendet, als wir die Sauen noch nicht impfen konnten. Vermutlich war durch die Impfung der Ferkel irgendwann nicht mehr genügend Virus im Bestand, um die Sauen auf natürlichem Weg vor (!) dem 70. Trächtigkeitstag zu infizieren und damit eine Immunität aufzubauen. Diese Sauen steckten sich dann oft noch in der Hochträchtigkeit an und das führte zu einer massiven Spätabortklinik (Bugwelle). Soweit wir wissen, gelangen die Viren erst nach dem 70. Trächtigkeitstag über die Plazenta in die Gebärmutter und infizieren dort die Ferkel, weshalb es dann zu dem Spätabort kommt.


Herr Dr. Grunert, was ist aus Ihrer Erfahrung der größte Unterschied bei den heutigen PRRS-Kontrollbemühungen im Vergleich zu denen vor 25 Jahren?

Dr. Grunert: Sanierungen scheinen in Vergessenheit zu geraten. Ich habe es immer schon darauf angelegt, Bestände zu sanieren, zum Beispiel von Mykoplasmen, Actinobacillus pleuropneumoniae, Räude oder auch Dysenterie. Mit meinem Kollegen Jürgen Zabke habe ich mich dafür eingesetzt, mithilfe des Impfstoffes auch PRRS zu sanieren - und dies ist uns auch in ganz vielen Fällen gelungen. Es gibt da ein System von Scott Dee aus den USA, mit dem wir sehr intensiv zusammengearbeitet haben. In Regionen, in denen die Bestände weiter auseinander sind, wie hier in Mecklenburg, hat es funktioniert. Betriebe bis 2.000 Sauen haben wir mithilfe der Impfung vom Feldvirus befreit.

Dr. Schagemann: Ohne Impfstoffe wäre das nicht möglich gewesen. Dazu ist dieses Virus einfach zu clever, weil es sich über lange Virämie und kurze Immunität diesen Vorteil verschafft, ständig wieder neue empfängliche Tiere infizieren zu können, die Infektion reißt ohne Impfung einfach nicht ab.


Frau Dr. Schagemann, zunächst gab es damals ja nur eine Ferkelzulassung: Lag das daran, dass die
Sauenzulassung aufwändiger war und mehr Zeit benötigte oder glaubte man wirklich, das Syndrom
allein über die Immunisierung der Ferkel zu beherrschen?

Dr. Schagemann: Es waren beide Gründe: Erstens ist die Zulassung für Sauen extrem aufwändig und dauert auch länger; zweitens war die Situation anfangs so, dass viele Bestände durchseucht waren. Es hatte sich eine Populationsimmunität durch die Infektion aufgebaut, deshalb waren die Sauen vorerst einigermaßen stabil. In Skandinavien liefen einige Untersuchungen, bei denen festgestellt wurde, dass das Virus eigentlich nur noch bei den Ferkeln zu finden war. Anfangs haben wir tatsächlich geglaubt, dass die Sauen eine extrem gute Immunität ausbilden und eine erneute Infektion nicht wirklich dramatisch ist, sondern dass das große Problem einfach bei den Ferkeln liegt.


Frau Dr. Schagemann, die Impfung allein der Ferkel kann also die Infektionsketten nicht unterbrechen,
wie sieht es denn mit einer alleinigen Sauenimpfung aus?

Dr. Schagemann: Auch das hat nur eingeschränkt funktioniert. Wir führen auch aktuell wegen der Corona-Pandemie diese Diskussionen rund um die Herdenimmunität. Wenn ich nun rechne: wir haben eine Sau und über 10 Ferkel, dann kommen bei einer reinen Sauenimpfung auf 10 % immunisierte Tiere mindestens 90 % potenzielle Virusausscheider. Außerdem lagen zumindest in Westdeutschland die Aufzuchtställe oft direkt neben den Abferkelbereichen, so konnte das Virus wunderbar zwischen Sauen und Ferkeln zirkulieren. Wir haben gelernt, dass bei alleiniger Sauenimpfung der Infektionsdruck einfach zu hoch bleibt.


Herr Dr. Grunert, wie haben Sie das in der Praxis gehandhabt?

Dr. Grunert: Zwei Jahre lang haben wir nur die Ferkel geimpft. Dann kam es aber zu dieser bereits erwähnten Bugwelle. Sobald dann die Sauenimpfung verfügbar war, habe ich die Sauen geimpft und von da an habe ich immer empfohlen, Sauen und Ferkel zu impfen. Das ging überhaupt nicht anders. Ich habe am Anfang mit der Impfung begonnen, wie sie von amerikanischen Kollegen empfohlen wurde: also 6 Tage post partum und dann vor dem 70. Trächtigkeitstag. Ich habe dann aber recht schnell aufgrund der besseren Wirksamkeit die Bestandsimpfung eingeführt und diese alle paar Monate wiederholt. Das Intervall hing von der Serologie und Klinik ab. Nach Jahren konsequenter Impfung wurden Betriebe sogar PRRS-Feldvirus-frei.


Herr Dr. Grunert, eine Zulassung war ja nur möglich, weil der US-Stamm auch gegen europäische
Isolate eine Kreuzprotektion nachweisen konnte. Hat sich das in der Praxis bestätigt?

Dr. Grunert: Das hat sich 100%ig bestätigt. Ich habe mit diesem Impfstoff viele Betriebe saniert, und die waren EU-Virus-verseucht, denn wir haben hier nur EU-Feldvirus gehabt. Wir haben den Erfolg der Sanierungsmaßnahmen durch das Einstallen von Indikatortieren (negativ und ungeimpft) nachweisen können. Diese Tiere, i.d.R. Jungsauen, wurden ein Jahr lang alle 4 Wochen serologisch untersucht und erst dann war Bestand sicher saniert.

Ab 2002 habe ich Betriebe untersucht, die jahrelang geimpft waren, und dabei habe ich eine ganze Reihe von Beständen entdeckt, die gar kein Feldvirus mehr hatten. Diese Betriebe hatten sich selbst durch die Impfung saniert.

Dr. Schagemann: Wir hatten engen Kontakt zu den amerikanischen Wissenschaftlern und Forschern aus Europa, also Lelystad, und wir haben die Impfstoff-Kandidaten verglichen: der US-Impfstamm zeigte eine wunderbare Wirksamkeit gegen amerikanische und europäische PRRS- Viren. EU-Prototypen dagegen haben es leider nicht geschafft, US-Feldviren anzugehen und das führte dann auch zur Entscheidung, den US-Stamm weiterzuentwickeln.

Man muss schon sagen, dass es Infektionen gibt, die mit Impfstoffen einfacher zu bekämpfen sind, weil diese passgenauer sind. Aber PRRSV ist einfach ein Virus, das sich extrem schnell verändert. Natürlich wäre es toll, wenn wir gegen jede Variante draußen im Feld einen hundertprozentig passenden Impfstoff hätten. Denn wir wissen: wenn sich das Virus nicht verändert, gibt es eine sehr schöne und langanhaltende Immunität. Nur das lässt sich bei PRRS leider nicht realisieren.


Herr Dr. Grunert, wissenschaftliche Literatur zur PRRS-Impfung wird oft damit eingeleitet, dass die
verfügbaren Impfstoffe nicht perfekt seien. Würden Sie die Geschichte der PRRS-Kontrolle dennoch
als Erfolg bezeichnen?

Dr. Grunert: Mit Sicherheit ist sie ein großer Erfolg. Wir sprachen schon darüber: Es gibt in der Biologie nichts 100 % Perfektes, aber der Impfstoff hat über die 25 Jahre gut funktioniert. Da muss man nicht in Kleinigkeiten herumsuchen.


Frau Dr. Schagemann und Herr Dr. Grunert, vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Dr. Heike Engels